Zwei Stunden bevor Sahra Wagenknecht die Bühne vor dem Rathaus in Chemnitz betritt, bauen zwei Helfer bereits den BSW-Wahlstand auf. Sie sind extra aus Dresden angereist, einen Kreisverband hat das Bündnis Sahra Wagenknecht in Chemnitz noch nicht. „Ich bin BSW-Unterstützer, so einfach ist das ja nicht mit einer Mitgliedschaft“, sagt einer der beiden. In Sachsen hat das BSW etwa 65 Mitglieder.

Trotzdem ist der Unterstützer schwer engagiert. Kaum steht der BSW-Pavillon, nähern sich die ersten Interessierten. „Wollen Sie vielleicht einen Flyer?“, fragt er einen braungebrannten Mann mit gestutztem grauem Bart. „Ich habe euch schon zweimal gewählt“, sagt der mit etwas Stolz und ergänzt: „Für den Frieden.“

Auf den Plakaten der Grünen steht: „Menschenrechte statt Putin-Knechte“.

Fünf Tage sind es noch bis zur Landtagswahl in Sachsen. Doch statt über klassische Landesthemen wie Bildung oder Regionalplanung zu diskutieren, dreht sich im Freistaat fast alles um die Ukraine und die Frage, ob man das Land weiterhin in seinem Abwehrkrieg gegen Russland unterstützen soll.

Das Thema polarisiert und erhitzt die Gemüter. „Wir geben Frieden wieder eine Heimat“, plakatiert das BSW. Auf den Plakaten der Grünen steht: „Menschenrechte statt Putin-Knechte“.

Enttäuscht von der Linken und sauer auf die Grünen

Symbolisch für die unterschiedlichen Positionen stehen vor allem zwei Frauen: Sahra Wagenknecht und Annalena Baerbock. In Chemnitz kommt es an diesem heißen Sommernachmittag im sächsischen Wahlkampfendspurt zum Nahduell zwischen der BSW-Gründerin und der Außenministerin von den Grünen.

Wagenknecht hat sich auf dem zentralen Neumarkt angekündigt. Während von der nahen Stadtkirche noch die Melodie von „Die Gedanken sind frei“ vom Glockengeläut ertönt, füllt sich der Platz zunehmend. Am BSW-Stand erklärt der Unterstützer einigen Rentnern die Unterschiede zur AfD. Sie wolle die Renten privatisieren, unterstütze die Wehrpflicht und wolle mehr in die Rüstung investieren. „Die AfD ist eine antisoziale und militärische Partei“, sagt er.

Ein paar Meter weiter stehen Antonio Martinez und Siegfried Aurich. Sie wirken wie ein ungleiches Duo. Martinez, 62, ist Lehrer für Mathematik und Physik und 1990 aus Nicaragua nach Chemnitz gekommen.

„Das sind Lügner“, sagt Martinez über die Grünen

Aurich lebt schon sein ganzes Leben in Chemnitz. Erst war er Offizier, nach der Wende dann Filialleiter in einem Konsum. Heute ist sein 82. Geburtstag, doch nach feiern ist ihm nicht. „Das ist wichtig hier“, sagt er.

Bisher hat der Rentner immer die Linke gewählt. „Ich verrate ja nicht meine Ideale“, sagt er. Doch seit die Partei eine flüchtlingsfreundliche Migrationspolitik vertrete, sei sie für ihn unwählbar.

Martinez hat bei der letzten Landtagswahl die Grünen gewählt. Mit Robert Habeck habe er 2019 noch ein Selfie gemacht. Jetzt ist er enttäuscht. „Das sind Lügner“, sagt er über die Grünen und kritisiert deren Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Dass sie sich beide nun auf dem Marktplatz in Chemnitz eingefunden haben, liegt am Friedenskurs von Sahra Wagenknecht. „Der Krieg ist zu verurteilen“, sagt Aurich, schränkt aber direkt ein: „Was sollen die Russen denn machen, wenn die USA sie von allen Seiten umzingeln?“

Auch Martinez sieht die Schuld nicht allein bei Putin. „Geschichte wiederholt sich“, sagt er und zeigt eine Narbe an seinem Knie. In den achtziger Jahren kämpfte er in Nicaragua auf der Seite der linksgerichteten sandinistischen Regierung gegen die Contra-Rebellen, die von den USA unterstützt wurden. „Die Amerikaner manipulieren auch in der Ukraine“, ist sich Martinez sicher.

Nach „99 Luftballons“ tritt der BSW-Kandidat auf

Schließlich geht es los. Erst ertönt „99 Luftballons“ von Nena, dann stellen sich die lokalen BSW-Kandidaten vor. Der Spitzenkandidat des Bündnisses in Sachsen, Jörg Scheibe, sagt, er sei wegen der „Dummheit“ der Ampelregierung, die „ideologisch verblendet“ sei, politisch aktiv geworden. „Wir stehen für einen neuen Politikansatz“, sagt er.

Mit etwas Verspätung kommt Wagenknecht auf die Bühne, vor der sich mehr als 1000 Menschen drängen. Ansatzlos ledert sie gegen „die da oben“ los, die den Menschen vorschreiben wollten, wie sie zu denken, zu heizen, zu essen, zu reden hätten. „Ich will nicht in einem Land leben, in dem eine übergriffige, arrogante Politik den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben hätten.“

„Die Ampel muss schnellstmöglich in die Rente geschickt werden“

Wagenknecht knöpft sich die Ampel vor. Die Regierung versage jeden Tag und schaffe Probleme statt sie zu lösen, sagt sie und verweist auf die stagnierende Wirtschaft, die teuren Energiepreise und das sinkende Bildungsniveau. „Die Ampel muss schnellstmöglich in die Rente geschickt werden“, sagt Wagenknecht.

Solche Sprüche kommen in Chemnitz gut an. Das Publikum johlt immer wieder, es gibt viel Applaus. Wagenknecht macht die Ampelregierung verächtlich. „Moralweltmeister“ sei sie, die „dümmste in Europa“, den Krieg in der Ukraine habe man nicht beendet, indem man kein russisches Gas mehr gekauft habe.

Vor allem die Grünen nimmt sie ins Visier. Namentlich nennt sie Baerbock, Habeck und Grünen-Chefin Ricarda Lang, die in einer Talkshow die Durchschnittsrente ein paar hundert Euro zu hochgeschätzt hatte. Eigentlich, so Wagenknecht, müsse Lang deshalb zurücktreten.

„Frieden ohne Gerechtigkeit ist keine Lösung“

Zum Ende ihrer halbstündigen Rede kommt sie zu dem Thema, das offensichtlich die meisten Zuhörer bewegt. „Es darf nicht sein, dass wir weiter einen so gefährlichen Weg gehen“, sagt sie über die Gefahr eines drohenden Atomkriegs. „Kriege verhindert man nicht mit Waffen“, sagt Wagenknecht. Es brauche Diplomatie und Friedensverhandlungen. Es sei schrecklich, was in der Ukraine geschehe. Doch immer neue Waffen würden nur immer mehr junge Männer auf beiden Seiten der Front töten.

Das Publikum applaudiert lange, doch es ist auch Gesang auf dem Neumarkt zu hören. Auf der anderen Seite des Platzes stehen etwa 30 Ukrainerinnen mit Fahnen und Plakaten und singen die Hymne ihres Landes. Sie demonstrieren gegen den Auftritt von Wagenknecht. „Keine Geschäfte mit dem Kriegsverbrecher im Kreml“, steht auf einem Plakat, „Frieden ohne Gerechtigkeit ist keine Lösung“, auf einem anderen.

„Wir haben große Sorge vor der Wahl am Sonntag. Wir wissen, was passieren kann, wenn Politiker gewählt werden, die mit Russland Geschäfte machen wollen“, sagt Veronika Smalko, die die Gegendemonstration organisiert hat. Sie ist aus Kiew geflohen und betont, wie dankbar sie Deutschland für die große Unterstützung der Ukraine ist. Doch die Zweifler gerade in Ostdeutschland versteht sie nicht. „Ich weiß nicht, ob die Leute noch einmal 40 Jahre DDR haben wollen.“

Bei den Grünen ist es ruhiger

Eine Stunde später und einen Kilometer vom Rathaus entfernt, geht es bei den Grünen deutlich ruhiger zu. Und das, obwohl die Partei alles aufgefahren hat, was sie zu bieten hat. Neben Außenministerin Baerbock sind auch die lokalen Kandidaten, die Europaabgeordnete, der Bundestagsabgeordnete, die beiden sächsischen Grünen-Minister und die Landesvorsitzende der Grünen in das Kino gekommen. Hier kommt nur rein, wer sich vorab angemeldet hat. Beim Einlass werden die Taschen genau durchsucht.

Es sind vor allem Grünen-Mitglieder, die zum Wahlkampfhöhepunkt gekommen sind. Insgesamt sind es vielleicht 300, die in den Kinosesseln Platz nehmen. An diesem Tag zeigt sich, dass sich die Kräfteverhältnisse in Sachsen bereits gedreht haben. Die Grünen sind zwar noch in der Regierung, doch das BSW steht schon bereit. Und so ist auch die Stimmung im Saal verhalten.

„Es ist schwierig, wenn sich alle nur auf uns eingeschossen haben“, sagt eine Grüne. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im sächsischen Landtag, Franziska Schubert, sagt über die Ukrainehilfe: „Wir wissen, dass uns das Stimmen kostet.“

„Das sind Momente, da zuckt einem das Herz zusammen“

Auf der Bühne versuchen sich die Grünen jedoch nichts anmerken zu lassen. Die drei Chemnitzer Direktkandidaten sollen zu Beginn auf Farbkreisen stehen und private Geschichten erzählen. Wo machst du gerne Urlaub (Deutschland), was machst du, wenn du mal in Rente gehst (lesen) oder welcher Post bei Instagram hat dir am besten gefallen? Es wirkt wie eine Mischung aus Twister und Herzblatt.

Der Auftritt von Annalena Baerbock wird dann ernster. Sie erzählt von einer Begegnung mit einer 14-Jährigen aus der Ukraine, die von Russland verschleppt worden war und fliehen konnte. Das Mädchen habe sie gefragt, ob sie versprechen könne, dass Deutschland weiterhin alles für die Sicherheit der vielen anderen verschleppten Kinder tun könne. „Das sind Momente, da zuckt einem das Herz zusammen.“

Leider gebe es viele Menschen in Deutschland, die ihre Augen vor dem verschließen würden, was in der Ukraine passiere. „Putin möchte leider nicht verhandeln“, sagt Baerbock und verweist auf Bemühungen direkt nach Kriegsbeginn, durch eine afrikanische Delegation oder zuletzt bei einer Friedenskonferenz in der Schweiz. Man habe „keinen Zauberstab“, um Putin zum Verhandeln zu zwingen. Solange der russische Präsident nicht bereit sei, seine Truppen zurückzuziehen und einem Waffenstillstand zuzustimmen, müsse man die Ukraine unterstützen. „Damit wir nicht alle fliehen müssen, aber auch, damit wir uns selbst schützen.“

Im Kino stört an diesem Abend niemand den Auftritt der Außenministerin. Auch davor steht nur ein einzelner Mann mit einem Plakat, der wissen will, wer die Gas-Pipeline Nordstream II gesprengt habe. Ansonsten ist es ungewöhnlich ruhig.

Es scheint, als interessiere sich schon gar niemand mehr für die Grünen.

Von Felix Hackenbruch

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