Nach dem Anschlag in Solingen wurde bekannt, dass der Täter vor seiner geplanten Abschiebung offenbar genau wusste, wie er diese umgehen kann. Unter anderem die „Bild“ führt das auf eine Dresdner Anwältin zurück, die dem Flüchtling den Tipp zum Untertauchen gegeben haben soll. Wut auf die Frau und Asylrechtsanwälte allgemein waren die Folge.

Michael Brenner ist Mitglied des Ausschusses für Migrationsrecht der Bundesrechtsanwaltskammer. Im Interview mit FOCUS online erklärt der Nürnberger Anwalt, wie er und seine Kollegen in dem Bereich arbeiten, was dabei legitim ist – und was nicht.

FOCUS online: Herr Brenner, können Sie die Wut auf die Anwältin des Solingen-Attentäters nachvollziehen?

Michael Brenner: Soweit ich den Fall überblicke, ist es bislang nur eine Behauptung, dass die Anwältin einen Tipp zum Untertauchen gegeben hat. Aus der Ferne betrachtet hat die Kollegin absolut richtig gehandelt und ihren Mandanten korrekt über die gesetzlichen Regeln aufgeklärt. Deshalb kann ich nicht verstehen, dass die Anwältin in Medien und der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt wird und daraus Wut auf sie entsteht.

Hat die Bundesrechtsanwaltskammer versucht, mit der Kollegin über die Vorwürfe zu sprechen?

Brenner: Nein, es gab keinen direkten Kontakt. Wir zeigen uns aber solidarisch mit der Kollegin. Der Hass ist so weit gediehen, dass die Kollegin mittlerweile in das Visier von Rechtsextremen geraten und ihre Kanzlei massiven Anfeindungen ausgesetzt ist.

„Als Flüchtlingsanwalt macht man finanziell keine großen Sprünge“

Hinter der Wut steht offenbar ein Eindruck, den CSU-Politiker Alexander Dobrindt einst mit dem Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ beschrieben hat, der 2018 zum Unwort des Jahres gewählt wurde. Machen Asylrechtsanwälte mit der Vertretung zahlreicher Flüchtlinge gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ein lukratives Geschäft?

Brenner: Wenn ein Mandant im Asylverfahren mit einem negativen Bescheid des Bamf zu mir kommt, ich Klage einreiche und den Mandanten in der ersten Instanz vor dem Verwaltungsgericht vertrete, bekomme ich nach den gesetzlich festgelegten Gebühren 850 Euro netto. Für so einen Fall veranschlage ich im Schnitt zehn Arbeitsstunden – das macht einen Stundenlohn von rund 85 Euro.

Ich will nicht verhehlen, dass das mehr als in manch anderen Berufen ist, aber im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten liegt man mit diesem Stundenlohn am unteren Ende. Zudem muss man ja zum Beispiel auch noch die Räumlichkeiten und Personal bezahlen. Als Flüchtlingsanwalt macht man finanziell keine großen Sprünge.

Gibt Kollegen, die den Beruf „aus Überzeugung“ ausüben

Wenn die Motivation keine finanzielle ist: Sind vielleicht deshalb viele Asylanwälte auf diesem Gebiet tätig, weil sie politische eine liberalere Migrationspolitik für richtig halten – und diese mit ihrem Beruf durchsetzen wollen?

Brenner: Das ist mir zu pauschal, die Anwältinnen und Anwälte in diesem Bereich haben ganz unterschiedliche politische Einstellungen. Aber es ist sicher so, dass einige Kollegen den Beruf aus Überzeugung ausüben, weil sie die Schicksale der Flüchtlinge sehen und den Menschen helfen wollen.

Was ist Ihre Motivation?

Brenner: Ich bin 2017 Anwalt geworden, als die sogenannte Flüchtlingskrise noch voll im Gange war. Es ist unbeschreiblich bereichernd, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen zu tun zu haben und sie unterstützen zu können. Ich habe mich aber auch davor im Studium schon immer für dieses Rechtsgebiet interessiert, es ist sehr spannend und facettenreich. Für mich ist das alles viel wichtiger als der finanzielle Aspekt.

 

Zeitweise jede dritte Bamf-Entscheidung fehlerhaft

Warum benötigen überhaupt so viele Flüchtlinge einen Anwalt?

Brenner: Sie haben in aller Regel keine rechtlichen Kenntnisse, es gibt aber eine Vielzahl an rechtswidrigen Entscheidungen des Bamf. In den vergangenen Jahren war zeitweise jede dritte Entscheidung der Behörde fehlerhaft. Im vergangenen Jahr war die Quote zwar nur noch bei rund 20 Prozent, das ist aber immer noch eklatant zu hoch.

Woran liegt das?

Brenner: Es gibt ein Personalproblem. 2015 musste das Bamf viele Leute neu einstellen, um der steigenden Zahl von Asylanträgen Herr zu werden. Das war vermutlich nicht immer ausreichend qualifiziertes Personal. Außerdem gibt es im Laufe des Verfahrens oft Lageveränderungen in den Herkunftsländern. Zum Beispiel haben sich nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan die Leitlinien geändert, was aber bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnte.

Und schließlich sprechen die Asylbewerber oft keinerlei Deutsch, haben Wissenslücken bei der Rechtslage. Wenn sie vor der anwaltlichen Beratung bei der Anhörung Angaben machen, wissen sie nicht, worauf es eigentlich ankommt. Das muss ich dann mit meinen Mandanten korrigieren, nachdem das Kind eigentlich bereits in den Brunnen gefallen ist.

Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, die Falschen zu beraten? Nämlich diejenigen, die in Deutschland nicht Schutz suchen, sondern Unheil anrichten wollen?

Brenner: Mein Auftrag ist es, die rechtliche Situation der Menschen zu bewerten und sie entsprechend zu beraten. Nicht mehr und nicht weniger. Wie soll man auch die wahren Motive der Menschen herausfinden? Ich kann ihnen ja nicht in den Kopf schauen. Deshalb kann so eine Prüfung gar nicht funktionieren.

Anwälte dürfen keine Tipps zum Untertauchen geben

Wie einige Recherchen zeigen, wissen viele Flüchtlinge über die entscheidenden Punkte im Asylrecht Bescheid. Zum Beispiel soll es in der Unterkunft des Solingen-Täters eine Whatsapp-Gruppe gegeben haben, in der sich die Bewohner vor drohenden Abschiebungen warnten, um sich dann verstecken zu können. Wäre es legitim, als Anwalt ein solches Vorgehen vorzuschlagen?

Brenner: Solche Tipps darf man als Anwalt nicht geben. Es ist sicherlich nicht im Rahmen dessen, was mein Berufsstand unter anwaltlicher Beratung versteht. Ich gehe deshalb davon aus, dass das auch nicht passiert. Was wir aber aus anwaltlicher Pflicht heraus machen – und das darf man nicht verwechseln – ist eine Aufklärung darüber, welche rechtlichen Folgen beispielsweise ein Untertauchen hat.

Wo ist der Unterschied zwischen einem Tipp und dem Hinweis, dass es theoretisch ein Untertauchen geben könnte? In beiden Fällen könnte sich der Mandant dazu motiviert fühlen.

Brenner: Ich führe aus, was die rechtlichen Konsequenzen sind – bei einem Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung nämlich eine Fristverlängerung, sodass eine Überstellung bis zu 18 Monate lang möglich ist. Deshalb warne ich vor dem Untertauchen, weil es letztlich negative Folgen für den Geflüchteten hat.

Negative Folgen hat es aber nur, wenn man davon ausgeht, dass nach dem erstmaligen Rückführungsversuch auch weiter an einem Vollzug gearbeitet wird – was wie im Fall des Solingen-Täters oft nicht der Fall ist.

Brenner: Das liegt aber nicht in den Händen von Anwälten und Geflüchteten.

„Wir dienen den Interessen unserer Mandanten und nicht der Stimmung in der Bevölkerung“

Der Anwalt des Vergewaltigers in Illerkirchberg, der in der vergangenen Woche nach Afghanistan abgeschoben wurde, hat angekündigt, dass sein Mandant nach Deutschland zurückkehren wird. Rechtlich ist das allerdings nicht möglich. Können Sie nachvollziehen, dass so eine Medienarbeit von Anwälten bei der Bevölkerung Unmut schürt?

Brenner: Ich will die Aussage des Kollegen nicht bewerten. Mir sind auch nur wenig Fälle mit ähnlichen Äußerungen bekannt. Grundsätzlich gilt: Wenn solche Aussagen im Interesse der Mandanten sind, halte ich sie für legitim. Denn wir dienen den Interessen unserer Mandanten und nicht der Stimmung in der Bevölkerung.

Häufig ist bei Abschiebungen von einem Vollzugsdefizit die Rede. Inwiefern können Asylrechtsanwälte bei der Behebung dessen helfen?

Brenner: Noch einmal: Wir dienen den Interessen der Mandanten und können uns nicht an politischen Forderungen wie der Verbesserung des Vollzugs orientieren. Außerdem halte ich es für falsch, von Vollzugsdefiziten zu sprechen. Als Anwalt bin ich ständig damit konfrontiert, dass Menschen in Abschiebehaft genommen werden. Das Aufenthaltsrecht bietet mittlerweile mannigfaltige Möglichkeiten, Abschiebungen zu vollziehen – zuletzt wurden meines Erachtens auch grundgesetzwidrige Regeln geschaffen.

Denkfehler bei Solingen-Täter: „Debatten deshalb nicht zielführend“

Also halten Sie die politische Debatte nach dem Attentat in Solingen für falsch?

Brenner: Ja, solche Einzeltaten wie in Solingen lassen sich nicht verhindern. Mir stößt auch eine Sache sauer auf: Selbst wenn der Täter nach Bulgarien abgeschoben worden wäre – wäre es besser gewesen, wenn er dort gemordet hätte?

Und wenn man noch einen Schritt weiter denkt: Hätte der Mann in Bulgarien Schutz erhalten, hätte er mit seinem Aufenthaltstitel und syrischen Pass jederzeit legal wieder nach Deutschland reisen können. Die Debatten über das Dublin-Verfahren beziehungsweise weitere Verschärfungen des Asylrechts sind deshalb überhaupt nicht zielführend und treffen nun eine Vielzahl von Geflüchteten, die sich absolut redlich verhalten.

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