Ein Freitagmorgen in Berlin. Ich moderiere eine Diskussion zwischen Unternehmern. Es geht um unseren Wirtschaftsstandort, die Wettbewerbsfähigkeit, die stagnierende Wirtschaftsleistung – und auch ums Bürgergeld.

Ein Firmeninhaber erzählt, dass manche seiner Mitarbeiter gekündigt hätten und jetzt Bürgergeld beziehen. Plus Schwarzarbeit. „Woher er das weiß?“, frage ich ihn.

Die schlichte Antwort: Er habe einige von ihnen auf eBay entdeckt. Schlecht bezahlt habe er sie nicht, aber das Andere lohne sich einfach mehr. Eine Unternehmerin stimmt in die Klagewelle mit ein und erwähnt die vielen Krankheitstage bei ihren gewerblichen Mitarbeitern.

Nicht nur in diesen Räumlichkeiten reibt sich Deutschland weiterhin in der Diskussion um das Bürgergeld auf. Auch einige Politiker finden es zu hoch und schlagen Kürzungen vor. So wie FDP-Fraktionschef Christian Dürr .

Ich bin oft Stelters Meinung – aber dieses Mal nicht

Ich selbst tendiere auch zu Kürzungen, war jedoch kürzlich verwundert, als ich bei FOCUS online die Headline „Wir reden über 15 Euro beim Bürgergeld – das ist einfach Quatsch“ las.

Die Aussage stammte nicht von irgendeinem SPD-Politiker, sondern von meinem Lieblingsökonom Daniel Stelter. In dem Interview beschreibt er die Debatten der Politiker um die Kürzung des Bürgergelds um bis zu 15 Euro als irre.

Verwundert las ich den Text und fand die komplette Aussage Stelters: „Stattdessen reden wir über 15 Euro beim Bürgergeld – das ist irre, das ist einfach Quatsch. Die Politik verliert sich in dieser kleinteiligen Komplexität.“ Ich bin oft Stelters Meinung, aber in diesem Fall nicht.

Wir müssen doch gerade mit Blick auf die Steuerzahler schauen, dass das Bürgergeld nicht zu hoch im Vergleich zu den Arbeitnehmern in unserem Land ist. Warum sollte es also Nonsens sein, über die Höhe des Bürgergelds zu debattieren?

Es gibt wenige deutsche Ökonomen mit der Weitsicht Stelters

Das möchte ich von Stelter selbst wissen. Wir kennen uns durch den Polit-Talk „Viertel nach Acht“, den ich früher für „Bild“ moderierte. Wenn Stelter dabei war, hat mein Ehemann immer doppelt so gern zugeschaut.

Kein Wunder – es gibt wenige deutsche Ökonomen mit der Klarheit und Weitsicht von Daniel Stelter. Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität St. Gallen und seiner anschließenden Promotion war er Unternehmensberater bei der internationalen Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG).

Heute ist er Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Forums „beyond the obvious“. Er berät internationale Unternehmen zu den Herausforderungen der sich stetig wandelnden globalen Märkte und ist Host des Podcasts „bto – beyond the obvious – der Ökonomie-Podcast mit Dr. Daniel Stelter“, der vom „Handelsblatt“ präsentiert wird.

„Eine komplette Übertreibung, die sich durch alle Themen zieht“

Stelter ist nicht der einzige Ökonom mit einem beeindruckenden Lebenslauf. Was ihn auszeichnet: Er legt den Finger in die Wunde – immer. Er ist zugleich Ruhestörer und Ermutiger. Wir nehmen auf einem gelben Sofa Platz. Ich starte das Gespräch.

Brockhaus:  „Muss Deutschland zum Therapeuten auf die Couch?“

Stelter:  „Ja, in der Tat. Wir neigen zu einer emotionalen Überhöhung von Themen, und uns fehlt die Rationalität des Nüchternen.“

Brockhaus:  „Man würde ja eher meinen, dass wir Deutschen vom Naturell her rationaler und nüchterner sind als andere Nationen.“

Stelter:  „Das empfinde ich nicht so. Schauen Sie sich die medialen Diskussionen an. Es gibt das Bestreben gewisser Journalisten, in jedem Beitrag zu zeigen, dass wir den Klimawandel bekämpfen müssen. Wenn heute irgendwo 35 Grad herrschen, ist sofort der Klimawandel schuld.

Es gab vor 60 Jahren auch schon 35 Grad, und wir haben es überlebt. Das ist eine komplette Übertreibung, die sich durch alle Themen zieht. Ich bin übrigens kein Klimaleugner. Die Rede ist von medialer Undifferenziertheit.“

Brockhaus:  „Bei welchem Thema wird noch überzogen?“

Stelter:  „Bei der Migration. 2015 haben wir mit ‘Refugees-welcome’-Plakaten gewedelt, und viele hatten Freudentränen in den Augen. Damals hätte man Rationalität und Nüchternheit gebraucht. Jetzt schwingt das Pendel in die Gegenrichtung: Man will am liebsten keine Migration mehr. Es heißt, das seien alles Verbrecher. Beide Herangehensweisen entspringen einer völligen Irrationalität. Die einzelnen Menschen sind nüchterner, aber kollektiv neigen wir zur emotionalen Überreaktion.“

„Wir neigen dazu, uns selbst zu überschätzen“

Brockhaus:  „Wie erklären Sie sich das?“

Stelter:  „Der Soziologe Max Weber hat zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterschieden. Bei der Verantwortungsethik geht es darum, wie man ein sinnvolles Ergebnis erzielt. Wenn wir zum Beispiel wollen, dass es weniger Hunger in der Welt gibt, dann ergreifen wir bestimmte Maßnahmen – auch wenn das bedeutet, dass wir mit Leuten zusammenarbeiten, die nicht ganz ‚our piece of cake‘ sind. Aber wir helfen, Armut zu bekämpfen.“

Brockhaus:  „Und die Gesinnungsethik?“

Stelter:  „Bei der Gesinnungsethik – man könnte auch verächtlich sagen: beim ausgeprägten Gutmenschentum – hat das Ergebnis einen niedrigen Stellenwert. In den letzten Jahren ist die Gesinnungsethik bei uns stark geworden. Getreu dem Motto: Moralisch richtig zu liegen ist wichtiger, als wirklich etwas zu bewirken.“

Brockhaus:  „Woran machen Sie diese Entwicklung fest?“

Stelter:  „Wir neigen dazu, uns selbst zu überschätzen. Unsere Politiker glauben, im Alleingang das Weltklima retten zu können. Schon in der Vergangenheit war der Spruch ‚Am deutschen Wesen soll die Welt genesen‘ der falsche Ansatz. Das wird auch dieses Mal nicht funktionieren.“

Brockhaus:  „Man kann ja inzwischen fast jeden Tag dramatische Wirtschaftsnachrichten lesen: Insolvenzen, Entlassungen, Werksverlagerungen. Wie geht es Deutschland?“

Stelter:  „Wir erleben gerade eine schleichende Deindustrialisierung. Die Industrie geht von hier weg, und damit verschwindet auch die Grundlage unseres Wohlstands. Zusätzlich werden wir als Gesellschaft immer älter. Wir stehen vor einem massiven Niedergang, und wir werden von Politikern regiert, deren Hauptziel nicht die Sicherung des Wohlstands ist.“

„Ich würde das nicht als faul, sondern clever bezeichnen“

Brockhaus:  „Früher war das zentrale Ziel unserer Wirtschaftsminister das Wirtschaftswachstum. Das scheint sich verändert zu haben. Hat unsere Wirtschaftspolitik ihren Fokus verloren?“

Stelter:  „Die Politik sollte weniger darüber diskutieren, wie man den Kuchen verteilt, sondern darüber, wie der Kuchen größer wird!“

Brockhaus:  „Haben sich die Bürger inzwischen an die Alimentierung durch den Staat gewöhnt? Ich empfinde eine zunehmende gesellschaftliche Trägheit und ein Ausruhen auf Sozialleistungen. In diesem Umfang war das früher undenkbar. Bei meinen Eltern gilt es bis heute als asozial, vom Staat abhängig zu sein.“

Stelter:  „Ich habe den Eindruck, dass das sogar gefördert wird. Das Bürgergeld kommt schon sehr nah an ein bedingungsloses Grundeinkommen heran. Das wollen auch einige Parteien. Man lebt dann nach dem Motto: Warum soll ich etwas tun, wenn ich sowieso Geld bekomme? Man geht noch schwarz arbeiten und hat ein relativ auskömmliches Leben – auf Kosten der Allgemeinheit.“

Brockhaus:  „Warum ist das so? Sind die Menschen einfach zu faul?“

Stelter:  „Sozialleistungen zu kassieren und nebenbei ein bisschen schwarz zu arbeiten, ist ein hochrationales Verhalten. Mit wenig Arbeit haben Sie relativ viel Geld, und das Risiko ist überschaubar. Das würde ich nicht als faul, sondern als clever bezeichnen. Mit möglichst wenig Einsatz holen Sie das Maximale heraus. Das Problem ist, dass es Anreize gibt, es so zu machen.“

Stelter plädiert für möglichst simple Anreize

Brockhaus:  „Was sind die Anreize?“

Stelter:  „Der Lohnabstand stimmt nicht. Für viele Menschen lohnt es sich nicht, für 200 bis 300 Euro mehr im Monat arbeiten zu gehen. Wenn ihr Bruttoeinkommen über eine bestimmte Schwelle steigt, fallen Sozialleistungen weg – zum Beispiel das Wohngeld. Netto bleibt ihnen dann nicht viel mehr als jemandem, der weniger arbeitet. Das muss geändert werden.“

Brockhaus:  „Ich stimme Ihnen bei allem zu, frage mich nur, warum Sie dann kürzlich in einem Interview sagten, über 15 Euro beim Bürgergeld zu diskutieren sei Quatsch. Warum? Es wäre doch ein wichtiges Symbol für die Steuerzahler. Ich finde es richtig, den arbeitenden Bürgern einmal zu zeigen: Wir schauen da ganz genau hin.“

Stelter:  „Wir haben ja vorhin über die Debattenkultur gesprochen. Solche Themen werden über Monate medial und politisch zerpflückt, und am Ende erreichen Sie nichts. Es gibt sinnvollere Maßnahmen, die weniger Widerstand auslösen.“

Brockhaus:  „Welche?“

Stelter:  „Ich würde die Abgaben senken und so den arbeitenden Menschen mehr Geld in der Tasche lassen. Dann haben Sie netto – trotz des Wegfalls von Sozialleistungen – deutlich mehr Geld. Wenn man am Ende nicht nur 200 bis 300 Euro, sondern 600 bis 800 Euro mehr als ein Sozialhilfeempfänger hat, ist das ein viel besseres Symbol für die arbeitenden Menschen und auch ein starker Anreiz, mehr oder überhaupt zu arbeiten.“

Brockhaus:  „Wäre länger arbeiten eine Option?“

Stelter:  „Hier ist es ähnlich wie beim Bürgergeld. Sie können sagen, wir erhöhen das Rentenalter auf 70, aber dann gibt es einen riesigen Aufstand. Man sollte es lieber mit Anreizen machen: Wer über 65 hinaus arbeitet, der ist bis zu einem bestimmten Betrag an jährlichem Einkommen von Steuern und Abgaben befreit. Anreize müssen möglichst simpel sein, damit jeder sie verstehen kann!“

Die Lage ist nicht schwarz-weiß

Auch hier stimme ich Stelter zu. Anreize sind das, was wir brauchen. Und am Ende dominieren die 15 Euro Bürgergeld den medialen Diskurs, aber der Nutzen ist gering. Steuern senken für die arbeitende Bevölkerung wäre wesentlich sinnvoller.

Ich denke in diesem Moment an einen Clip, den ich kürzlich von einer CDU-Politikerin gesehen hatte. Mit welcher Eiseskälte sie über das Bürgergeld sprach, weckte in mir Unbehagen. Das wirkte fast, als würde jeder Bürgergeld-Empfänger Porsche fahren.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Arbeitnehmer müssen immer mehr netto haben als Bürgergeldempfänger. Und wir müssen die Debatte führen. Zwingend. Aber die Lage ist nicht schwarz-weiß.

Schon gar nicht sollte die Bürgergeld-Debatte emotional geführt werden. Lieber rational und mit Bedacht. Es ist das erste Mal bei „Nena und die andere Meinung“, dass ich das Team wechsele. Doch in diesem Fall möchte ich es tun: Ich wechsele ins Team Stelter.

Dennoch interessiert mich, wie jede Woche, am meisten Ihre Meinung, liebe Leser! Finden Sie es Nonsens, über 15 Euro weniger beim Bürgergeld zu debattieren, oder halten Sie das für wichtig?

Seien Sie sich gewiss: Ich lese immer all Ihre Kommentare – jeden Einzelnen. Jede Woche. In diesem Sinne: Wenn Sie mögen, lesen wir uns nächste Woche Samstag wieder. 

Ihre Nena Brockhaus

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